Meet me in Ireland – Kapitel 10

Ronans Gedanken rasten. Er musste eine Lösung finden und zwar schnell, denn Orla konnte gerade nichts mehr entscheiden. Das spürte er. 

Sie war immer noch schockiert von dem Unfall. Kein Wunder, denn Shane war ein Freund von ihr. Ronan war richtig wütend auf den Typen, weil er Orla in diese Situation gebracht hatte. So etwas mit ansehen zu müssen war für jeden schrecklich, aber für jemanden wie Orla, die es zum einen nicht gewohnt war und zum anderen sehr mitfühlte, war es furchtbar.

Und jetzt waren die Jugendlichen da. Genau zum falschen Zeitpunkt. Ronan wusste, dass er etwas tun musste. 

Hinter Marion stieg eine andere Frau aus dem Kleinbus und schaute sich prüfend um. Sie wirkte freundlich, aber auch ein wenig erschöpft.

„Oh Gott, ich muss erst mal meine Gedanken sortieren”, murmelte Orla. „Ich kann das Projekt nicht durchführen, wenn Shane nicht da ist.”

Die Frau kam auf sie zu und streckte die Hand aus. „Hallo, ich bin Patty. Sie müssen Orla sein. Wir hatten vorhin telefoniert.” Sie lächelte freundlich.

„Das ist richtig”, sagte Orla, aber Ronan hörte, dass ihre Stimme zitterte.

Ronan bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Brendan zu Marion trat und sie flüsternd darüber aufklärte, was geschehen war. Gut, dann brauchte er sich nicht mehr darum zu kümmern. 

„Ist Shane auch da?”, fragte die Frau. „Wir kennen uns bereits.” Suchend schaute sie um.

Orla schüttelte stumm den Kopf.

Patty runzelte die Stirn. „Aber er ist doch gestern schon angereist, oder?”

Ronan spürte, wie Orla sich versteifte. „Das stimmt, aber er musste jetzt noch mal weg.” 

Unsicher schaute sie zu Ronan.

„Darf ich dir helfen?”, fragte er so leise, dass nur sie ihn hören konnte.

„Ja, bitte.” Ihre Stimme klang dünn.

Er wandte sich an Patty und streckte ihr die Hand hin. „Guten Tag, mein Name ist Ronan Flannagan. Ich bin der Tischler hier vor Ort und habe geholfen, die Werkstatt vorzubereiten, damit die Jugendlichen dort sicher arbeiten können.”

Patty lächelte und ergriff seine Hand. „Die Bürgermeisterin hat mir eben schon kurz von Ihnen erzählt. Vielen Dank, dass Sie das Projekt auf diese Art und Weise unterstützt haben.”

Ronan nickte. „Nichts zu danken. Ich finde, es ist ein großartiges Projekt, und ich wünschte, es würde noch viel mehr davon geben. Ich glaube, die Jugendlichen werden hier viel lernen.”

„Aber wir können es jetzt gar nicht mehr durchführen”, platzte Orla heraus. Ronan legte ihr wieder die Hand auf den Rücken.

Patty runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das?”

Als Orla sich auf die Lippe biss, sprang Ronan ein. „Es gab eben einen Unfall. Shane hat sich in der Werkstatt verletzt und musste ins Krankenhaus gebracht werden.”

„Ist es sehr schlimm?”, fragte Patty entsetzt.

„Er schwebt nicht in Lebensgefahr, aber vermutlich wird er ein wenig im Krankenhaus bleiben müssen.”

„Warum haben Sie mir nichts davon gesagt?”, fragte Patty Orla und klang ein wenig vorwurfsvoll. „Dann wäre ich mit den Jugendlichen gar nicht hergekommen.“

„Es ist eben erst passiert”, antwortete Orla. 

Ronan fügte hinzu: „Der Krankenwagen ist Minuten, bevor der Bus kam, vom Hof gefahren. Wir hatten noch keine Gelegenheit, Sie zu informieren, und jetzt müssen wir uns selbst erst mal ein bisschen sortieren.”

Patty seufzte. „Das sind ja gar keine guten Nachrichten. Aber ich kann die Kinder jetzt auch nicht wieder mit nach Dublin nehmen. Sie hätten dann gar keinen Platz, wo sie bleiben können.”

„Ich weiß”, sagte Ronan, „und wir werden eine Lösung finden.”

Orla nickte. „Ich glaube, ich sollte erst einmal die Projektleitung in Dublin informieren. Vielleicht können sie einen Ersatz schicken.”

„Das wäre wohl das Beste”, sagte Patty und wirkte sehr verkniffen. „Gibt es denn noch jemanden in Dublin? Im Moment sind doch alle in Projekte eingespannt soweit ich weiß. Himmel, was machen wir denn jetzt?“

Orla hob die Schultern. „Ich weiß es nicht.” Sie knetete ihre Hände, und Ronan fürchtete, dass ihr schon wieder schwindelig werden würde, so wie eben. Sie hatte einen Schock erlitten.

Auf einmal hatte er eine Idee. „Patty, hätten Sie möglicherweise noch ein wenig Zeit zu bleiben?”

Sie schaute ihn unschlüssig an. „Wie lange denn?”

„Vielleicht zwei bis drei Stunden, nicht länger. Dann schaffen Sie es immer noch vor dem Abendessen zurück nach Dublin”, sagte er.

Sie zögerte. „Und warum?”

„Ich würde Sie bitten, dass Sie in der Zeit die Aufsicht über die Jugendlichen übernehmen, damit Orla mit der Projektleitung klären kann, was jetzt zu tun ist. Wäre das in Ordnung?”

„Und was soll ich mit ihnen machen?”, fragte Patty. „Sollen wir in die Werkstatt?”

Schnell schüttelte Ronan den Kopf. „Nein, lieber nicht. Wir müssen dort erst aufräumen.” Er wollte nicht, dass die Jugendlichen irgendwelche Blutspuren sahen. 

Sein Blick fiel auf Marion, die ein wenig blass war, aber entschlossen wirkte. „Gibt es eine Möglichkeit, dass du Patty und die Jugendlichen das Rathaus und die Stadt zeigst und ihr vielleicht irgendwo etwas zum Mittagessen organisiert? Vielleicht geht ihr ins Pub? Ich übernehme das”, sagte er.

Marion nickte. „Natürlich, das ist überhaupt kein Problem. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich helfen kann.” Sie wandte sich an Patty. „Ist das für Sie auch in Ordnung? Ich bin eine ausgezeichnete Stadtführerin, und sicherlich hätte ich sowieso irgendwann eine kleine Tour mit den Jugendlichen gemacht. Das Pub ist sehr gut, und ich kann es empfehlen. Selbst für die verwöhnten Gaumen von Sechzehnjährigen.“

Unschlüssig schaute Patty von einem zum anderen.

Orla nickte. „Es wäre wirklich eine große Hilfe, Patty.“

Schließlich seufzte die andere Frau. „Also gut, kein Problem. Das sind ja außergewöhnliche Umstände, da helfe ich gern. Sollen wir einfach mit dem Bus wieder in die Stadt fahren?“

„Ja, ich denke, das wäre das Beste”, sagte Marion und ging schon wieder zur Tür.

Ronan warf einen Blick in den Bus. Sechs Jugendliche saßen darin, die zu ihnen herausschauten und das Gespräch anscheinend interessiert verfolgten, obwohl er sich sicher war, dass sie nicht alles verstehen konnten, da es heute ziemlich windig war.

„Ich melde mich später bei dir, wenn wir mehr wissen”, sagte Ronan zu Marion.

„Keine Sorge, lass dir Zeit”, erwiderte sie und stieg mit Patty wieder in den Bus.

Der Fahrer wendete, und dann rollten die Jugendlichen wieder vom Hof.

Orla starrte dem Kleinbus hinterher. „Ich muss das Projekt absagen”, sagte sie.

„Das ist noch nicht gesagt”, meinte Ronan und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Die Berührung schien ihr Halt zu geben. „Ich glaube, du musst jetzt erst mal ein bisschen deine Gedanken sortieren.”

„Ich muss vor allem erst mal die Projektleitung anrufen.”

Ronan zögerte. „Vielleicht gibst du ihnen einfach nur kurz Bescheid, dass Shane ausfällt, und dann können sie sich Gedanken machen. Während sie sich beratschlagen, gehen wir zum Strand.”

„Zum Strand?”, erwiderte Orla verwirrt.

„Ja, die Wellen und die Weite werden dir wieder Klarheit geben”, sagte Ronan. „Sie wirken einfach beruhigend.”

Er sah, dass Brendan die Augenbrauen hochzog. Zu seiner Überraschung kam sein Freund zu ihnen rüber. „Ich denke, das ist eine gute Entscheidung. Orla, geh mit Ronan. Ich werde in der Zwischenzeit die Werkstatt sauber machen.”

„Das musst du nicht tun”, sagte Orla. „Das kann ich auch machen.”

Doch Brendan schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall. Das mache ich.”

„Danke, Mann”, sagte Ronan. „Das weiß ich wirklich zu schätzen.”

Brendan warf ihm einen Blick zu und nickte kurz. Er war ein Freund, auf den man sich immer verlassen konnte. Das war schon damals so gewesen. Ronan wusste, dass die Werkstatt gut aussehen würde, wenn er zurückkam. Nichts würde an den Unfall erinnern. 

Das war auch besser so. Orla brauchte keine Erinnerung daran, vor allem nicht, wenn sie das Projekt weiterhin durchführen wollte. Und er hoffte sehr, dass sie es tat. Für die Jugendlichen war es wichtig, und er hatte das Gefühl, dass es auch Orla gut tun würde, wenn das Projekt stattfand. 

Mal ganz abgesehen davon, dass er noch nicht bereit war, sie wieder gehen zu lassen. Er wollte, dass sie noch eine Weile in Emerald Cliffs blieb. Aber das war ein anderes Thema.

„Komm, wir setzen uns ins Auto”, sagte er. „Von da aus kannst du in Ruhe telefonieren. Ich fahre dich dann zum Strand.”

Orla runzelte die Stirn. „Können wir nicht einfach hier runtergehen?” Sie wies auf die Klippen.

Doch Ronan schüttelte den Kopf. „Ich will an einen besonderen Ort.”

„Zu den Ottern?”, fragte sie leise, obwohl sie allein waren.

„Nein, leider nicht. Die sind jetzt nicht da. Aber ich will dir was anderes zeigen.”

Zum Glück tat Orla, was er sagte. Sie war immer noch blass um die Nase, und er konnte es ihr nicht verdenken.

Als sie im Auto saßen, starrte Orla erst eine Weile auf ihr Handy, dann tippte sie etwas ein. Sie atmete zitternd ein, hielt das Handy ans Ohr und sagte: „Hallo Derek, hier ist Orla. Es geht um das Projekt in Emerald Cliffs mit der Tischlerei.”

Der Mann am anderen Ende sprach so laut, dass Ronan ihn trotz der Motorengeräusche verstehen konnte. „Wie läuft es denn? Sind die Jugendlichen schon eingetroffen?”

„Sie sind gerade hier im Ort angekommen”, sagte Orla und biss auf ihre Unterlippe. „Aber wir haben ein Problem. Ich wollte dich nur kurz darüber informieren, damit ihr entscheiden könnt, wie wir weiter vorgehen.”

„Ein Problem?”, sagte Derek und klang plötzlich sehr ernst. „Ist irgendjemand dabei, der Ärger macht?”

„Nein”, sagte Orla und warf Ronan einen Blick zu, während er die Seitenstraße am Rand der Cliffs entlang fuhr. „Shane ist gestern angekommen, und leider hatte er gerade einen Unfall und musste ins Krankenhaus.”

„Einen Unfall?”, sagte Derek. „Was ist passiert?“

„Er hat sich an der Hand verletzt, und vermutlich werden sie ihn nach Dublin bringen, weil er eine kompliziertere Operation braucht. Zumindest ist es das, was ich verstanden habe.”

„Das heißt, er fällt also aus?” Der Mann klang auf einmal eher genervt.

„So ist es”, sagte Orla, „und ich weiß jetzt nicht, was ich tun soll. „Könnt ihr jemanden als Ersatz schicken? Schließlich kann ich hier nicht allein mit den Jugendlichen bleiben. Oder sollen wir zurückkommen?“

Ronan hielt das Lenkrad etwas fester. Es überraschte ihn, dass er nicht wollte, dass sie schon wieder ging.

Derek schwieg eine Weile. „Das ist natürlich wirklich ein Problem. Ich würde ja sagen, mach das alleine, aber dadurch, dass vier Jungen in dem Projekt sind, kann ich dich als Frau nicht als Gruppenleiterin alleine mit ihnen dort wohnen lassen.”

„Ich weiß”, sagte Orla. „Deswegen rufe ich ja an.”

„Und sie sind jetzt schon da?”

„Eben angekommen.”

„Lass mich nachdenken, wer das übernehmen könnte.“

 Ein feines Lächeln breitete sich auf Orlas Gesicht aus und Ronan sah, wie sie die Finger kreuzte, vermutlich weil sie auf gute Nachrichten hoffte. „Es gibt also jemanden? Das wäre großartig.“

Derek seufzte. „Matt wäre der Einzige, der gerade nichts hat, aber er macht gerade Pause zwischen zwei Projekten. Er ist in den Urlaub gefahren. Da kann ich ihn nicht zurückholen.”

„Mist”, murmelte Orla. „Gibt’s denn irgendjemand anderen?”

„Nein, leider nicht. Ich muss mir wirklich Gedanken machen. Zur Not müssen wir das Projekt wieder absagen, was schade wäre. Wie sollen wir das den Geldgebern erklären?“

Orla zögerte. „Die Familien rechnen bestimmt auch nicht mit ihnen. Haben sie denn dann alle einen Platz, an dem sie wohnen können?”

Der Mann stöhnte auf. „Da hast du recht. Wir müssen eine Lösung finden. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie die aussehen könnte.”

„Könntest du vielleicht kommen?”, fragte Orla.

„Nein”, sagte Derek entschieden. „Ich kann hier nicht weg. Ich muss alles koordinieren.“

„Vielleicht für ein paar Tage, bis ich hier alles eingespielt habe?”

„Nein, unmöglich. Ich fürchte wirklich, dass wir das Projekt absagen müssen. Vielleicht können wir es ein bisschen nach hinten verschieben. Meinst du, Shane wird noch wieder gesund, dass er die Projektleitung noch übernehmen kann?”

„Nein, ich denke nicht. Zumindest hat das die Ärztin gesagt.“

„Okay, ist der Bus mit den Jugendlichen noch da?“

„Ja”, sagte Orla vorsichtig.

„Dann soll sich der Fahrer auf jeden Fall bereithalten, dass er sie möglicherweise mit zurücknimmt. Wenn uns in den nächsten Stunden nichts einfällt, dann blasen wir das Ganze ab.”

„Aber…”, sagte Orla, dann verstummte sie. „Naja, vielleicht ist es wirklich das Beste.”

Ronan schaute sie von der Seite an. Sie wirkte so am Boden zerstört. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn sie erst einmal an den Strand gegangen wären. Auf der anderen Seite musste die Projektleitung Bescheid wissen. Vielleicht fand dieser Derek ja doch noch irgendeine Möglichkeit.

„Gibt es denn jemanden vor Ort, der einspringen könnte?”, fragte Derek jetzt.

Orla schluckte und Ronan merkte, dass sie ihn mit Absicht nicht anschaute. „Nein”, sagte Orla. „Das wäre absolut un…

„Ich mache es“, sagte Ronan schnell. Auf die Idee war er noch gar nicht gekommen, aber natürlich, er konnte helfen.

„Wer war das?”, hörte er Derek fragen.

Doch Orla antwortete nicht, denn sie starrte Ronan mit offenem Mund an.

„Orla?”, fragte der Mann am anderen Ende.

Ronan parkte das Auto auf dem kleinen Parkplatz in der Nähe des Leuchtturms und nahm Orla das Handy aus der Hand. 

„Darf ich?“, fragte er leise. 

Als sie mit immer noch offenem Mund nickte, stellte er auf Lautsprecher und sagte: „Guten Tag, mein Name ist Ronan Flannagan. Ich bin Möbeltischler und habe geholfen, die Werkstatt vorzubereiten, in der die Jugendlichen arbeiten sollen. Ich war eben dabei, als Shane erstversorgt wurde. Ich habe gerade gehört, was für ein Problem sein Ausfall verursacht, und ich könnte für ein paar Tage einspringen.”

„Aber du hast doch anderes zu tun”, flüsterte Orla.

„Ein paar Aufträge kann ich schieben. Das ist kein Problem”, sagte er.

„Das wäre natürlich eine Möglichkeit”, sagte Derek. „Sind Sie denn qualifiziert für sowas?”

Ronan zögerte.

„Definitiv”, sagte Orla jetzt. Ihre Augen leuchteten auf. „Ich hatte Ronan eh engagiert, dass er morgen für uns die Sicherheitseinweisung macht. Er ist sehr gewissenhaft, und ich glaube, dass die Teilnehmer viel von ihm lernen könnten und auch, dass sie seine Autorität akzeptieren würden.”

„Haben Sie denn schon einmal mit Jugendlichen gearbeitet, Mister Flannagan?“, fragte Derek.

„Ja”, sagte Ronan.

Erstaunt sah Orla ihn an. Er würde er ihr später erzählen, dass er früher bei Küstensäuberungsaktionen mit Jugendlichen die Leitung übernommen hatte.

„Ich denke, ich werde darüber nachdenken. Haben Sie einen Lebenslauf, den Sie mir schicken können? Oder können wir später noch mal in einem Videocall sprechen?”

„Orla hat doch bestimmt Ihre E-Mail-Adresse“, sagte Ronan, „dann schicke ich Ihnen noch heute alles zu. Ob es für einen Call zeitlich reicht, weiß ich nicht.”

„Also gut.” Derek klang noch zögerlich, doch Ronan konnte ihm das nicht verübeln.

„Es ist ja nur für ein paar Tage”, sagte Orla schnell und sie klang aufgeregt, „bis ihr einen Ersatz schicken könnt.”

Ronan hörte, dass sie Sorge hatte, dass es doch nicht klappen könnte. Dann würde wirklich das ganze Projekt auf der Kippe stehen.

Deshalb fügte er hinzu: „Rufen Sie gern die Bürgermeisterin von Emerald Cliffs an. Marion Sheehan. Sie wird für mich bürgen.“ Er wusste, dass Marion bezeugen würde, dass er gut dafür geeignet war.

Orla presste sich eine Hand vor den Mund und schaute ihn dankbar an. Ihre Augen schimmerten feucht.

„Also gut. Ich schaue mir alles an, aber wenn Orla sagt, dass es passt, dann ist es wohl das Beste, wenn ich ihr glaube. Zumindest ist es besser, als wenn wir das Projekt absagen. Ich muss jetzt leider los”, sagte Derek, „aber wir sprechen bestimmt später noch.”

Ronan wusste auch nicht, warum er das tat, aber er wollte Orla unbedingt helfen. Sie hatte so hart dafür gearbeitet, dass dieses Projekt überhaupt zustande kam. In den letzten Tagen, während sie in der Werkstatt gewesen waren, hatte sie ihm einiges davon erzählt. Es war ein Herzensprojekt von ihr, weil sie selber diese Chancen nicht gehabt hatte, als sie noch jung gewesen war.

Und das konnte er gut nachvollziehen. Im Gegensatz zu ihr hatte er diese Chancen bekommen, weil er an diesem kleinen Ort gewohnt hatte, in dem man ihn aufgefangen hatte. 

Es war ein Glück gewesen, dass seine Mutter mit ihm hierher gezogen war, als er es am dringendsten gebraucht hatte. Und das wollte er jetzt ein wenig zurückgeben. Es wäre fatal für die Jugendlichen, wenn sie das jetzt nicht bekommen könnten. Er kannte sie noch nicht einmal, und trotzdem wollte er helfen.

Und er wollte für Orla da sein.

Sie verabschiedeten sich und sie ließ das Handy sinken.

„Das würdest du wirklich tun?”, fragte sie.

„Das hab ich doch gerade gesagt.”

„Ja, aber ich dachte, es wär ein Traum. Ich glaube, du wärst richtig gut mit den Jugendlichen. Und dann könnte das Projekt stattfinden.”

„Und genau deswegen mache ich das”, sagte Ronan. „Es wäre schade, wenn es nicht zustande käme.”

„Das stimmt”, fügte sie hinzu. „Shane tut mir trotzdem leid.”

Ronan schwieg. Wenn er richtig verstanden hatte, was gerade passiert war, dann tat Shane ihm nicht wirklich leid. Denn anscheinend hatte er den Unfall selbst verschuldet, weil er zu übermütig gewesen war und gedacht hatte, er könnte alles. Orla hatte ihn anscheinend gewarnt, und er hatte es trotzdem getan. Dementsprechend konnte Ronan kein Mitleid empfinden.

Er öffnete die Tür. „Ich will dir was zeigen”, sagte er. „Es wird dir guttun. Dann kannst du die Entwicklungen des Nachmittags noch ein bisschen sacken lassen.”

Sie stiegen aus und gingen den kleinen Klippenpfad hinunter. Der Wind trug den salzigen Duft des Meeres zu ihnen herauf. Kurz vor dem letzten Absatz der Treppen bog Ronan ins Gebüsch ab.

„Hier ist doch gar kein Weg”, sagte Orla, folgte ihm aber.

„Er ist da, auch wenn man ihn nicht gleich sieht.” Er lächelte sie an, und wie immer, wenn er lächelte, schien Orla erstaunt.

Er bot ihr seine Hand, und Orla ergriff sie. Er war fast ein wenig schockiert darüber, wie gut es sich anfühlte, ihre Hand in seiner zu haben. Vertraut und richtig, als ob es so sein sollte.

Sie gingen durch das Gebüsch, und dann erreichten sie einen kleinen Trampelpfad. Ronan folgte ihm, und obwohl er ihre Hand hätte loslassen können, tat er es nicht. Orla machte auch keine Anstalten, sich von ihm zu lösen.

Sie erreichten den steilen Pfad, der hinunter zu der versteckten Bucht führte, die direkt unten am Leuchtturm war und die wirklich nur Einheimische kannten. Und selbst die kamen nicht oft hierher. Vermutlich war an einem Wochentag um diese Uhrzeit niemand da.

Ronan führte sie den Pfad hinunter, und als sie unten am Strand ankamen, blieb Orla stehen.

„Ach du meine Güte, ist das schön! Das sieht ja aus wie im Märchen.”

Ronan drehte sich um. Die kleine Bucht war von hohen Klippen umgeben, die sie vor dem Wind schützten. Der feine Sand glitzerte silbern im Nachmittagslicht, und das Wasser schimmerte in allen Schattierungen von Smaragdgrün bis Türkis. Über ihnen ragte der weiße Leuchtturm auf, der wie ein freundlicher Wächter über die Bucht leuchteten. Er hatte ganz vergessen, wie schön es hier war. Schon lange war er nicht mehr hier gewesen. Es war wirklich ein magischer Ort.

„Der Leuchtturm ist auch so wunderschön. Man sieht ihn zwar von weitem, aber hier direkt aus der Nähe ist er noch viel beeindruckender“, sagte Orla.

Sie wandte sich zu ihm um und verschränkte die Arme. „Hattest du hier etwas Bestimmtes vor? Du willst jetzt aber nicht schwimmen, oder?“ Sie versuchte sich an einem Lächeln, aber das geriet ein wenig schief.

Ganz kurz kam Ronan in den Sinn, dass er sie am liebsten küssen würde. Früher hatte er manchmal ein Mädchen hierher gebracht, aber das mit Orla war anders. Deswegen war er nicht hierher gekommen.

Und obwohl er sie zu gern geküsst hätte, wusste er, dass das heute ganz bestimmt nicht passieren würde. Nicht nach alldem, was passiert war. Sie war vollkommen durcheinander. Und er wollte nicht, dass sie ihn nur küsste, weil sie ihm dankbar dafür war, dass er bei dem Projekt half.

Gleichzeitig erstaunte ihn dieser Gedanke, dass er überhaupt daran dachte, sie zu küssen. Aber Orla war ja auch etwas Besonderes.

„Ich wollte, dass du in Ruhe über das nachdenken kannst, was heute passiert ist, und vielleicht eine Lösung findest.”

Orla lächelte. „Aber die haben wir ja schon.”

„Stimmt, das war unerwartet. Aber trotzdem, es war eine sehr beängstigende Situation für dich, und ich wollte, dass du ein wenig zur Ruhe kommst und dich nicht gleich um die Jugendlichen kümmern musst.”

Ihre Augen wurden glasig und ihre Nasenspitze ein wenig rot. Schnell wandte sie sich ab.

„Tut mir leid, ich bin eigentlich keine Heulsuse, aber es war wirklich beängstigend. Vor allen Dingen, weil er überhaupt nicht auf mich gehört hat. Ich hab ihm gesagt, dass das vermutlich zu gefährlich ist. Und dass er Handschuhe anziehen und eine Schutzbrille aufsetzen soll. Aber er hat einfach den Stecker reingesteckt und den Schleifer an das Holzstück gehalten. Das war total verrückt.”

Dann war es also tatsächlich genauso gewesen. Shane hatte sich unverantwortlich verhalten.

„Er hätte das nicht tun sollen.”

„Das hab ich ihm auch gesagt, aber da war es schon zu spät. Seine Hand hat geblutet. Ausgerechnet seine Hand. Ich hoffe, er wird wieder gesund.” Sie rieb sich übers Gesicht und zu gern hätte er sie in den Arm genommen.

„Bestimmt”, sagte Ronan. „Das sah nur im ersten Moment schlimm aus. Ich denke, er wird wieder.“

Orla schluckte und senkte den Blick auf den Boden. „Aber er ist ohnmächtig geworden. Ich glaube, das hat mir am meisten Angst gemacht.”

Er konnte ihre Panik immer noch fühlen, deswegen sagte er so ruhig er konnte: „Das kann ich gut verstehen. Man fühlt sich in solchen Momenten so hilflos. Aber du hast genau richtig reagiert.”

„Ich wollte dich unbedingt anrufen”, sagte sie, „aber ich hatte deine Nummer nicht.” Sie redete immer schneller.

Ronan seufzte. „Das sollten wir unbedingt ändern. Gib mir mal dein Handy.”

Orla entsperrte ihr Hand und reichte es ihm. Ronan trug seinen Namen und seine Nummer in die Kontakte ein. Dann drückte er auf Anrufen. Als sein Handy in der Tasche vibrierte, legte er wieder auf.

„Jetzt hast du sie und kannst mich immer erreichen. Es tut mir leid, dass ich sie dir nicht früher gegeben habe.“

„Danke. Allerdings hoffe ich, dass wir sie nicht noch einmal für einen Notfall brauchen. Das hat mir jetzt gereicht.”

Er lächelte. „Die statistische Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr groß.“

Sie atmete tief durch. „Jetzt muss ich mir erst mal einen neuen Plan überlegen. Shane hat die meiste Vorbereitung gemacht, und er weiß über die Jugendlichen Bescheid, aber er hat leider noch nicht mit mir darüber gesprochen. Er wollte es erst heute Abend machen.”

„Heute Abend erst? Das wäre etwas spät gewesen.”

Orla nickte und atmete tief ein. „Oh Gott, ich weiß gar nicht, wie ich das schaffen soll.”

„Wir schaffen das gemeinsam.”

Eine Weile standen sie da und lauschten dem Rauschen der Wellen. Das rhythmische Geräusch wirkte wie eine beruhigende Melodie.

„Ich hab noch nie einen so schlimmen Unfall gesehen”, sagte sie. „Ich hab schon viele schlimme Sachen in meinem Leben erlebt, aber so etwas, so ein Unfall, habe ich noch nie erlebt. Zumindest nicht mit so viel Blut.”

Ronan dachte an die Unfälle, die er schon gesehen hatte. Es in seinem Job kam öfter mal vor, aber davon sagte er jetzt lieber nichts.

Tränen traten Orla in die Augen, doch sie blinzelte sie schnell weg.

„Ich glaub, es ist besser, wenn ich jetzt nicht weine.”

„Was ist, wenn es besser ist, wenn du jetzt weinst?”

Sie runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?”

„Manchmal ist es auch gut, die Tränen rauszulassen. Irgendwie musst du diese Gefühle doch verarbeiten”, sagte Ronan.

„Ich komme mir dann aber so schwach vor. Weinen nützt doch nichts.”

„Es nützt mehr, als du denkst”, sagte Ronan.

Orla kämpfte immer noch mit den Tränen. Sie wischte sich kurz über die Augen und presste die Lippen zusammen.

Dann tat Ronan etwas, was ihn selbst überraschte. Er trat zu ihr und nahm sie in die Arme. Sie wehrte sich nicht, sondern schlang sofort die Arme um seine Taille und legte ihr Gesicht an seine Brust, so, als ob sie dorthin gehörte.

Er hielt sie ganz fest, und er fühlte, wie sie schluchzte. Sanft strich er ihr über den Kopf und schaute aufs Meer hinaus. Er hielt sie, während sie weinte und sich an ihn schmiegte, und obwohl es ihr so schlecht ging, so war er doch froh, dass sie ihm genug vertraute, dass sie in seinen Armen weinen konnte. Und er war dankbar, dass er ihr das geben konnte.

Die meisten hielten ihn für gefühlskalt. Nicht selten war er als gefühllos beschimpft worden von Exfreundinnen. Aber die meisten wussten nicht, dass eigentlich das Gegenteil der Fall war. Er hatte auch als Kind schon zu viele Gefühle gehabt und nur gelernt, sie hinter einer Schutzschicht zu verbergen. Deswegen erkannte er das auch bei anderen, wenn sie es brauchten.

Es dauerte eine Weile, bis Orla sich beruhigt hatte, und Ronan wünschte sich, er hätte ein Taschentuch dabei. Aber Orla zog selbst eins aus der Tasche und putzte sich schließlich die Nase.

„Danke”, sagte sie, und ihre Stimme klang rau. „Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so geweint habe.”

„Manchmal muss es einfach raus. Dafür bin ich ja da.”

Sie lachte kurz auf. „Es hört sich fast an, als ob das dein Job wäre. Aber ich bin dir auf jeden Fall sehr dankbar.”

Sie atmete tief durch und schaute jetzt auch auf das Meer hinaus.

„Dann machen wir also das Projekt zusammen”, sagte sie.

„Wenn du möchtest”, erwiderte Ronan.

„Natürlich will ich”, sagte sie. „Ich finde es sogar…” Dann brach sie ab. „Nein, das ist gemein, wenn ich das sage.”

„Was wolltest du sagen?” Das wollte Ronan hören.

„Ich fühl mich schlecht, wenn ich das sage, aber ich fühl mich fast besser, es mit dir zu machen. Ich hab heute Morgen schon gedacht, dass es schwierig werden könnte mit Shane, weil er sich anscheinend ein bisschen überschätzt hat, was Werkstattarbeit angeht. Und ich glaube, wenn er dabeigeblieben wäre, dann hätten wir möglicherweise Sicherheitsprobleme mit den Jugendlichen bekommen. Das wird jetzt nicht der Fall sein. Natürlich tut es mir leid für seine Hand, und ich will nicht, dass er Schmerzen hat oder bleibende Schäden. Aber ich glaube, du hast einfach mehr Ahnung von dem Ganzen.”

Ronan nickte. „So leid es mir tut, aber ja, das hab ich.”

Sie schauten sich an, und Ronan konnte nicht anders, als Orlas schiefes Lächeln zu erwidern. Ein warmes Gefühl breitete sich in seiner Brust aus.

„Es ist okay, wenn du das denkst”, sagte er. „In diesem Projekt ist es wirklich wichtig, dass alle sicher arbeiten. Und dafür werde ich sorgen.”

„Dann hat sich ja doch noch alles zum Guten gewendet. Irgendwie zumindest. Allerdings wäre es mir lieber gewesen, er hätte sich einfach nur den Magen verdorben.“

„Das wäre definitiv besser gewesen.“

Orla deutete auf sein T-Shirt. „Allerdings musst du dich jetzt erst mal umziehen. Dein T-Shirt ist total nass.”

Ronan hob die Schultern. „Ich werde einfach sagen, ich war schwimmen.”

Orla lächelte. „Würde dir bestimmt jeder glauben.” Sie schaute sich um. „Die Bucht ist wirklich wunderschön. Kann man hier auch baden?”

Ronan schüttelte den Kopf. „Meistens ist die Strömung zu gefährlich. Aber man kann hier einfach sitzen und es sich gut gehen lassen. Das ist perfekt für ein Picknick oder lange Gespräche.”

Orla zog eine Grimasse. „Oder Gespräche, die keiner mitbekommen soll, so wie dieses.”

„Man kann auch mal in Ruhe weinen”, erwiderte Ronan mit einem Lächeln.

Orla schaute ihn an, als ob sie sich fragte, ob er hier schon mal geweint hatte. Und wenn sie ihn gefragt hätte, dann hätte er diese Frage mit Ja beantwortet. Aber zum Glück fragte sie nicht.

„Komm, lass uns zurückgehen. Ich glaub, wir sollten Marion und Patty erlösen.”

Orla schaute ihn noch immer an. Ihre Augen schimmerten wie das Meer hinter ihr. „Es ist wirklich ein Glück, dass ich dich getroffen habe. Vielen Dank.”

Ronan hielt ihrem Blick stand. Es fühlte sich fast ein bisschen zu gut an, dass sie ihn so anlächelte. 

Plötzlich freute er sich auf die nächsten Tage.

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2 Gedanken zu „Meet me in Ireland – Kapitel 10“

  1. Katja Kleinhenz

    Hallo bei einer Seite ist mir etwas aufgefallen: „Es in seinem Job kam öfter mal vor, aber davon sagte er jetzt lieber nichts.“

    Hier ist mir aufgefallen dass sich ein kleiner Fehler eingeschlichen hat muss es nicht heißen: Es kam in seinem Job öfter mal vor ….

    Dieses Verständnis zwischen den zweien, weil sie ähnliches in ihre Kindheit erlebt haben,
    zumindest vermutet es Orla,
    ist spürbar und freut einen regelrecht. Vielen lieben Dank für die Kapitel

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