
Der Weg zum Strand hinunter sah verführerisch aus. Eine enge Treppe in den Klippen, Farne auf beiden Seiten. Es wirkte beinahe magisch. Aber Orla war sich nicht sicher, ob sie ihn benutzen durfte. In den USA, wo sie aufgewachsen war, war entweder alles ausgeschildert und die Benutzung ausdrücklich erlaubt oder es waren Privatwege.
Dann war es besser, sie nicht zu nehmen, denn man wusste ja nie, ob der Besitzer des Landes es erlaubte, dass man dort entlang ging. Das konnte unangenehmen Folgen haben. Deswegen war sie vorsichtig geworden, besonders weil ihre Mutter früher oft mit ihr geschimpft hatte, wenn sie sich in solche Situationen gebracht hatte. In den vergangenen zehn Jahren oder noch länger war sie allerdings nicht mehr in die Verlegenheit gekommen, da sie in New York gelebt hatte. Da gab es ganz andere Gründe, eine Straße nicht zu nehmen. Über Sicherheit musste sie sich hier in Emerald Cliffs sicherlich keine Gedanken machen. Die Kleinstadt war so zauberhaft, wie man es sich nur vorstellen konnte. Fast wie aus einem Bilderbuch.
Sie spähte den engen Pfad hinab. Obwohl sie seit über zwei Jahren in Irland wohnte, war sie fast noch nie außerhalb von Dublin gewesen. Deswegen war sie sich nicht sicher, was erlaubt war und was nicht. Allerdings waren die Iren wirklich sehr entspannte Leute und es war bestimmt kein Problem, solche Wege zu nehmen. Und Orla wollte unbedingt zum Strand hinunter.
Sie wusste zwar, dass der Aufstieg später anstrengend werden würde, aber immerhin war sie heute morgen unterwegs, um Emerald Cliffs zu erkunden. Sie würde die nächsten Wochen hier leben und, wenn es gut lief, mehrere Projekte durchführen. Bevor die Jugendlichen kamen, musste sie den Ort wirklich kennenlernen, und genau das würde sie jetzt tun.
Selbst von hier oben konnte sie das Rauschen der Wellen hören, die an den felsigen Strand schlugen. Der salzige Duft des Meeres stieg zu ihr hinauf. Orla hatte von oben auch schon gesehen, dass unten zusätzlich ein feiner Sandstrand war. Unbedingt wollte sie ihre nackten Füße in den Sand graben und das kalte Wasser an ihren Knöcheln spüren. Sie konnte es kaum erwarten. Am Abend zuvor, als sie in Emerald Cliffs angekommen war, war es zu spät gewesen, um noch an den Strand zu gehen. Aber jetzt, am frühen Morgen, war das Wetter einfach herrlich.
Es würde schon niemand etwas dagegen haben. Also stieg sie die Stufen hinunter und schob ein paar Ranken zur Seite, die ihr den Weg versperrten. Es war wie ein verwunschener Feenwald und Orla liebte es. So hatte sie sich Irland immer vorgestellt, als sie noch klein gewesen war und ihre Mutter ihr, von ihrer Heimat erzählt hatte. Das Land war tatsächlich so grün und frisch, wie sie es sich immer erträumt hatte.
Irland war tatsächlich magisch. Aber vielleicht lag das auch nur an ihren irischen Wurzeln, die sie empfänglich für diese Magie machten.
Während sie die Stufen immer weiter hinunterstieg und beobachtete, wie ihr Sommerkleid bei jedem Schritt um die Beine schwang, musste sie ein wenig über sich selbst lachen. Wenn ihre Kollegen von früher aus New York sie hier sehen könnten, würden sie sich wundern, wie sie sich verändert hatte. Früher war sie immer nur in engen Bleistiftröcken und High Heels unterwegs gewesen, hatte schicke Blusen getragen und stundenlang in Meetingräumen gesessen. PowerPoint war ihr liebstes Arbeitswerkzeug gewesen, und jetzt war das alles so weit weg. Wie ein anderes Leben.
Orla war sicher, dass sie einen Burnout gerade noch abgewendet hatte, als sie nach Irland geflohen war, denn sie hatte in New York einfach die Lebensfreude verloren. Doch die war in den letzten Jahren in Irland zurückgekehrt. Wie die Flut, die langsam wieder an Land kroch. Noch war ihre Zufriedenheit nicht da, wo Orla sie gerne gehabt hätte, aber sie wusste, es würde besser werden. Und vielleicht würde ja genau dieses Projekt dabei helfen. Es war ein großartiges Projekt, und sie konnte es kaum erwarten, dass es endlich losging.
Zwischen den Pflanzen, die über dem schmalen, engen Weg ein grünes Gewölbe bildeten, war es kühler, und Orla zog die Strickjacke ein wenig fester um ihren Oberkörper. Die feuchte Luft roch nach Moos und wilden Kräutern. Sie wusste, dass das hier definitiv ein Weg war, den sie mit den Jugendlichen gehen wollte. Vielleicht konnten sie diese Magie ja auch spüren. Das wäre etwas Wunderbares. Sie alle waren in der Stadt aufgewachsen und durften so etwas auch gern kennenlernen.
Auf einmal hörte sie eine Stimme, die sich unter das Rauschen der Wellen mischte. Die Stimme eines Mannes. Orla blieb wie angewurzelt stehen und lauschte. Das hier war ein sehr einsamer Strandabschnitt, etwas weiter weg vom Dorf, und es war noch früh am Morgen. Vielleicht war es nicht wirklich sicher, wenn sie sich alleine hier herumtrieb und einem fremden Mann begegnete. Wer wusste schon, was hier für seltsame Kerle herumliefen.
Dann schüttelte sie den Gedanken ab. Bisher waren alle, die sie getroffen hatte, äußerst freundlich gewesen. Je weiter sie aus Dublin herauskam, desto netter schienen die Menschen zu werden. Und die waren in Dublin schon sehr freundlich, wenn man es mit New York verglich. Ja, es waren auch ein paar sehr verschlossene Charaktere dabei, aber im Großen und Ganzen schien es hier wie ein kleines Paradies zu sein. Ihr Bauch kribbelte vor Aufregung, als sie sich entschied, weiterzugehen.
Außerdem war sie neugierig geworden. Wer sprach da unten am Strand? Sie hörte auch nur eine Stimme, nicht zwei verschiedene. Vielleicht sollte sie einfach nur mal einen Blick riskieren, wer dort unten war. Sie konnte nicht anders, als nachzusehen. Außerdem war sie schon so weit gekommen. Jetzt noch umzukehren, wieder hinauf zu gehen und dann auch noch den Strand zu verpassen? Nein, das war wirklich nicht, was sie wollte.
Natürlich wollte sie nicht spionieren, aber sie musste sich ja auch nicht gleich bemerkbar machen. So leise sie konnte, ging sie die Steintreppe weiter hinunter. Ihr Atem ging flacher.
Die Stimme wurde lauter. “Ja, ich weiß, ich bin gleich fertig.” Es war eine tiefe Stimme und äußerst angenehm, wie Orla fand. Sie lauschte. Er klang fast ein wenig amüsiert. “Jetzt hab dich nicht so!”
Ja, er war definitiv belustigt, als ob er einem ungeduldigen Kind sagte, dass es noch warten müsste, bis es den Pudding probieren konnte. “Bran, ja, du kannst ruhig schon mal schauen. Ach, alter Angsthase.”
Sprach er mit einem Kind? Oder einem Haustier? Mittlerweile war sie sich sicher, dass der Mann ihr nichts tun würde. Er klang einfach zu freundlich. Zu warmherzig. Vielleicht war er ja mit seinem Hund hier. Viele Menschen sprachen ja mit ihren Haustieren. Sie ging noch ein Stück weiter hinunter, setzte die Füße so leise, wie sie konnte und lugte dann um die Ecke der Farnblätter.
Tatsächlich, da stand ein Mann. Ein attraktiver Mann, wie sie feststellte. Er hatte dunkle Haare, helle Haut und vermutlich die typischen grauen, blauen oder sogar grünen Augen, die bei den Bewohnern dieses Landes oft mit den dunklen Haaren und der hellen Haut einhergingen. Orla mochte das an den Iren. Sie hatten nicht alle rote Haare, sondern einige zeigten auch diesen keltischen Einschlag.
Sie lehnte sich ein bisschen weiter vor, um zu sehen, ob dort ein Kind oder ein Hund war, aber sie konnte nichts erkennen. Der Mann trug eine Wathose, darunter ein T-Shirt, das die Muskeln seiner Oberarme deutlich zeigte. Ein sehr netter Anblick fand Orla. Als Grafikdesignerin waren das Sehen ihr wichtigster Sinn und schon als Kind hatte sie stundenlang schöne Dinge, Tiere und Menschen betrachtet. Es gab ihr einfach ein wohliges Gefühl, auch wenn es ein bisschen peinlich war, dass sie hier zwischen riesigen Farnblättern stand und einen Fremden anstarrte. Aber sie konnte nicht anders, als wissen zu wollen, mit wem er sprach. Noch immer konnte sie keinen anderen Menschen entdecken.
Jetzt lachte er. “Na kommt schon!” Das Lachen war leise und passte gut zum Rauschen der Wellen. Ein warmes Gefühl breitete sich in Orlas Brust aus, und eine Gänsehaut lief über ihren Arm. Sie strich darüber.
Da bemerkte sie, als der Mann ein Stück zur Seite trat, dass eine Badewanne neben ihm stand. Oder eine Art Becken. Das hatte er anscheinend aus einer Plane und einer Holzvorrichtung gebaut. Liebevoll zusammengezimmert. Sehr interessant. Daneben standen mehrere Kanister, und aus einem schüttete er jetzt Wasser in das Becken. Darin schwammen viele bunte Bälle. Wie Juwelen auf dem Wasser.
Orla runzelte die Stirn. Wofür waren die? Sie blickte, soweit sie das konnte, den Strand entlang. Auf der einen Seite waren Felsen, auf der anderen Seite der Sandstrand. Das Meer glitzerte in der Morgensonne.
Jetzt beugte sich der Mann über das Becken und nahm einen der Bälle aus dem Wasser. “Hast du heute mehr Lust auf Pink?” Er schaute sich um. Orla folgte seinem Blick, doch sie konnte nichts sehen. “Oder lieber doch Blau wie sonst? Ich habe auch extra noch ein paar grüne bestellt, aber die sind nicht zum Fressen, hörst du?”
In diesem Moment nahm Orla eine Bewegung wahr. Zwischen den Steinen war etwas. Sie beugte sich etwas weiter vor, um es erkennen zu können, und hätte fast das kleine braune Tier übersehen, das zwischen den Felsen hervorschaute. Eine Robbe? Ihr Herz setzte einen Schlag aus.
Sie zuckte zusammen. Dann sah sie, wie das kleine Tier über die Steine lief. Vier Beine. Robben hatten keine Beine. Orla war nicht sehr naturerfahren, aber so viel wusste sie. Ein Biber? Doch es hatte keine langen Zähne, und der Schwanz war anders. In New York hätte sie das Tier für eine übergroße Ratte gehalten. Dann ging ihr auf, was das war. Ein Otter! Sie seufzte leise und wusste nicht einmal warum. Aber er war so süß.
Sie hatte noch nie einen Otter im echten Leben gesehen und eigentlich war sie auch niemand, der Naturdokumentationen schaute. Aber der hier war einfach hübsch. Schlank und elegant. Orla hielt die Luft an.
Der Otter kam über den Strand, ganz vorsichtig, aber offensichtlich sehr neugierig. Der Mann stand ganz still und hielt immer noch den pinken Ball in der Hand. Es waren Plastikbälle wie von einem Kinderspielplatz. Der Otter wuselte über den Strand, ging manchmal hinter Steinen in Deckung, aber näherte sich dem Becken immer weiter. Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen.
“Ist gut, mein Freund”, sagte der Mann. Seine Stimme war noch etwas dunkler geworden, tiefer, und wieder lief Orla eine Gänsehaut über den Arm. Er hatte eine wunderschöne Stimme. Samtig und beruhigend.
Der Otter zögerte noch einen Moment, prüfte noch einmal die Umgebung, dann kletterte er an einer Art Steintreppe aus Felsen nach oben und glitt in das Becken. Elegant wie Wasser selbst. Der Mann wich ganz langsam zurück und beobachtete den Otter mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Ein Lächeln voller Zärtlichkeit. Oder bildete sie sich das ein?
Der Otter tauchte unter, kam wieder hoch und griff sich einen Ball. Einen blauen. Er wirbelte herum, drehte sich einmal um die eigene Achse, ließ den Ball los und griff sich den nächsten. Dieses Mal einen pinken. Es war einfach pure Lebensfreude.
“Heute kannst du dich wohl nicht entscheiden”, sagte der Mann wieder. Er sprach ganz ruhig, gerade so, dass er den Otter nicht erschreckte.
Der schien regelrecht vergnügt in seiner Badewanne mit den Bällen, und Orla musste lächeln. Ihr Herz wurde warm. Es war faszinierend, ihm zuzusehen, und sie konnte den Mann verstehen, dass er so ein Becken gebaut hatte. Aus Liebe zu diesem wilden Geschöpf.
Sie beobachtete die beiden eine Weile, bis ihr klar wurde, dass sie sich schon mindestens eine Viertelstunde nicht bewegt hatte. Vermutlich sogar länger. Und sie ahnte, dass sicherlich einer der beiden auf sie aufmerksam werden würde, wenn sie jetzt versuchte, sich davonzuschleichen. Oder konnte sie das unbemerkt tun? Sie wollte dem Mann definitiv nicht erklären, dass sie ihn schon eine Weile beobachtet hatte. Wie eine Spionin. Oh Gott, das war wirklich peinlich.
Sie hatte diesen Gedanken noch nicht einmal zu Ende gedacht, als der Otter sich im Wasser aufrichtete und in ihre Richtung schaute. Als ob er ihre Gedanken gehört hätte.
“Was ist los?”, fragte der Mann, aber er klang immer noch völlig ruhig. “Hier ist niemand. Keine Sorge.” Seine Stimme war wie eine sanfte Welle.
Doch der Otter lauschte und hielt die kleine Nase in die Luft, um zu riechen. Dann sprang er aus seiner Badewanne auf die Felsen und huschte hinter einen Stein davon. Das Tier war so schnell wie der Wind.
Orla biss sich auf die Lippe. Der Otter hatte sie also bemerkt. Der Mann rief: “Na los komm zurück. Es ist nichts los!” Ein Hauch von Enttäuschung schwang in seiner Stimme mit.
Orla wusste, dass sie jetzt die Initiative ergreifen musste. Sie räusperte sich leise und ging dann die Stufen weiter hinunter. Ihr Magen zog sich zusammen.
Der Mann drehte sich zu ihr um, und seine Augen weiteten sich vor Überraschung. Graue Augen, stürmisch wie das Meer.
“Hallo”, sagte Orla, „ich glaube, er ist meinetwegen verschwunden.” Entschuldigend lächelte sie ihn an.
Das Gesicht des Mannes wurde grimmig, und er verschränkte die Arme vor der Brust. Er sagte nichts. Die Stille zwischen ihnen war schwer wie Blei.
Orla lächelte ihn an. “Es tut mir wirklich leid. Ich wollte nicht stören.”
“Sie haben nicht gestört”, sagte der Mann, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht und der Klang seiner Stimme zeigten, dass er sehr wohl der Meinung war, dass er Orla hier nicht haben wollte.
Als er nichts weiter sagte, fragte Orla sich, ob sie einfach gehen sollte. Aber das wäre doch auch unhöflich. Außerdem war sie neugierig. Nun, was hatte sie schon zu verlieren? Außerdem wäre es unhöflich, einfach zu gehen. „Machen Sie das öfter?”, fragte Orla. “Sind Sie mit dem Otter befreundet? Es ist doch ein Otter, oder? Es tut mir leid, ich kenne mich mit Tieren nicht so aus.” Sie sprach zu schnell, merkte sie.
“Es ist ein Otter”, bestätigte der Mann. “Aber sehr scheu. Er mag keine Menschen.”
“Aber er mag Sie”, sagte Orla und kam noch einen Schritt näher. Unwillkürlich trat der Mann zurück. Okay, das war nicht gut. Anscheinend mochte er auch keine Menschen. Oder zumindest keine fremden Frauen, die ihn beim Spielen mit einem Otter erwischten.
“Bitte verzeihen Sie, dass ich ihn verscheucht habe. Meinen Sie, er kommt noch mal wieder?” Suchend schaute sie sich um, konnte aber nur die glitschigen Felsen entdecken.
“Nein”, sagte der Mann und stellte sich jetzt so vor das Becken, als ob er es mit seinem großen Körper verdecken wollte, damit Orla es nicht sah.
“Ich finde es sehr schön, was Sie da für ihn gebaut haben.” Sie deutete auf das Becken.
Er zog die Augenbrauen zusammen. “Ich habe es nicht extra für ihn gebaut.”
Orla bezweifelte das, aber vermutlich war es besser, nicht weiter auf das Thema einzugehen. Offensichtlich war es dem Mann peinlich, dass er mit einem Otter spielte und extra etwas für ihn gebaut hatte. Sie verstand das. Manche Dinge waren zu kostbar, um sie mit Fremden zu teilen.
“Mein Name ist Orla Murphy”, sagte sie und überlegte, ob sie ihm die Hand hinstrecken sollte. In Irland war das viel üblicher als in New York, jemanden mit Handschlag zu begrüßen, und hier auf dem Lande vermutlich noch mehr als in Dublin. Aber er wirkte nicht wie jemand, der anderen Menschen die Hand geben wollte. Seine ganze Körperhaltung schrie nach Distanz. Also ließ sie es.
“Ronan Flannagan.“ Mehr nicht. Orla fragte sich, ob er immer so wortkarg war.
“Es freut mich, Sie kennenzulernen. Ist es nicht ein wunderschöner Tag heute?” Sie versuchte es mit Leichtigkeit. Vielleicht weichte ihn das ja auf.
“Ja.”
Okay, das lief nicht gut. Er war wirklich sehr verschlossen, aber vermutlich hatte er seine Gründe. Sicher war es besser, wenn sie ihm nicht weiter auf die Nerven ging.
“Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie gestört habe. Ich bin erst gestern Abend angekommen und wollte einfach nur an den Strand. Ich dachte, ich kann diesen Weg benutzen. Mir war nicht klar, dass es sich möglicherweise um Privatgelände handelt”, sagte Orla. Sie wollte ganz bestimmt nicht, dass irgendeiner der Einheimischen ihr böse war, weil sie ein privates Grundstück betreten hatte, und sie war sich bei seinem feindseligen Auftreten nicht wirklich sicher, ob dieser Strandabschnitt nicht möglicherweise jemandem gehörte war. Ihre Wangen wurden warm und sie widerstand dem Drang eine Hand darauf zu legen.
“Ist es nicht”, sagte er. Es klang nur ein kleines bisschen weicher.
“Oh gut, dann bin ich beruhigt. Das heißt, ich kann einfach da an den Strand gehen?” Erleichterung durchströmte sie.
“Können Sie.”
Sie wartete darauf, dass er noch irgendetwas hinzufügte, so etwas wie “Sind Sie im Urlaub hier?” oder ähnliches. Aber er schwieg. Die Stille dehnte sich zwischen ihnen aus. Gern hätte sie ihm erzählt, dass sie länger hierbleiben würde, aber sie wusste nicht mal wirklich, warum sie das sagen wollte.
“Dann gehe ich jetzt also”, sagte sie und blieb trotzdem stehen. Ihre Füße wollten sich nicht bewegen. Sie wusste nicht, was mit ihr los war.
Er nickte wieder und schaute dann aufs Meer hinaus. Gut, das war ein deutliches Zeichen, dass er keine Lust hatte, mehr mit ihr zu sprechen. Und doch…
“Ich finde übrigens den Namen sehr schön, den Sie dem Otter gegeben haben. Bran, das bedeutet kleiner Rabe, nicht wahr?” Sie konnte nicht anders, als noch etwas zu sagen.
Der Mann zuckte so kurz die Schultern, dass Orla sich nicht sicher war, ob sie es richtig gesehen hatte, aber es schien fast wie eine Bestätigung zu sein. Ein winziges Zugeständnis.
“Ich habe das Wort neulich erst gelernt, und ich finde, es passt sehr gut. Ich komme nicht aus Irland, müssen Sie wissen”, sagte sie, dann brach sie ab. Er brauchte jetzt ja kaum ihre ganze Lebensgeschichte erzählt zu bekommen.
Offensichtlich war er ja nicht daran interessiert, und trotzdem wollte sie ihm irgendwie noch ein bisschen was erzählen. Sie konnte nicht anders. Sie fand es so rührend, dass er sich mit einem Otter angefreundet hatte. Und zwar so sehr, dass er für ihn eine Badewanne mit Bällen zum Spielen gebaut hatte. Welcher Mann tat so etwas? Vor allen Dingen ein Mann, der anscheinend mit Menschen nicht viel anfangen konnte. Es sagte so viel über sein wahres Wesen aus.
“Das dachte ich mir”, sagte er. “Amerikanerin?”
Orla nickte erleichtert. Er interessierte sich also doch ein bisschen. “Ja, ich habe vor zwei Jahren noch in New York gewohnt, und jetzt lebe ich in Dublin. Und heute Morgen wollte ich mir mal Emerald Cliffs ansehen.”
Er nickte. Keine Nachfrage. Als dieses Schweigen sich wieder in die Länge zog, gab Orla auf. Sie fragte: “Wenn ich hier den Strand entlang gehe, muss ich dann noch mal diesen Weg wieder zurückkommen, oder kann ich weiter vorne am Dorf die Klippen hochgehen?”
“Ganz am Ende gibt’s einen Weg.” Er warf einen Blick auf ihre Schuhe. “Mit den Schuhen kommen Sie da hoch, aber halten Sie sich am Seil fest. Das kann manchmal rutschig sein am Morgen.” Da war es wieder, ein Hauch von Wärme in seiner Stimme. Aber wirklich nur ein Hauch.
“Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen”, sagte Orla mit einem Lächeln, das er nicht erwiderte. Sie biss sich noch einmal auf die Lippe. Verdammt, dieser Mann faszinierte sie mehr, als sie zugeben wollte.
“Ich werde niemandem verraten, was ich heute Morgen gesehen habe”, sagte sie. „Versprochen.“
Ronan schaute sie lange, durchdringend an, dann wandte er den Blick ab. “Ich weiß nicht, was Sie meinen.” Aber seine Schultern entspannten sich ein wenig und sie meinte, ein bisschen Erleichterung in seiner Stimme zu hören.
“Gut”, sagte sie und hörte selbst, dass es vielleicht ein bisschen zu aufgesetzt klang, aber sie wollte, dass er merkte, dass sie ihm nichts Böses wollte. “Denn ich habe wirklich nichts gesehen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und vielen Dank für die Wegbeschreibung.”
Sie ging an ihm vorbei, warf noch einen Blick auf die Wanne mit den Bällen und bemerkte, dass die blauen und pinken deutlich abgenutzter waren als die grünen. Ein Zeichen vieler gemeinsamer Stunden mit dem Otter. Hatte er eben gesagt, dass er die grünen neu gekauft hatte? Dann hatten die beiden also schon öfter hier gespielt. Er hatte sich also wirklich mit einem Otter angefreundet. Was für ein außergewöhnlicher, interessanter Mann. Und sie wusste, sie würde ihn wiedersehen wollen.
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Hallo,ich freue auf jedes neue Buch das ich lesen darf,bin ein großer Fan von Irland , bin begeistert von all Ihren Büchern und kann es gar nicht erwarten wie es weitergeht .Ganz liebe Grüße aus Hoyerswerda Marion
Liebe Marion,
danke für Deine lieben Worte, das freut mich wirklich sehr!
Danke fürs Mitlesen und liebe Grüße,
Julia
Das. liest sich ja schon richtig gut. Irland muss ein tolles Land sein.
Das ist es auch, liebe Brigitte!
So schön, dass Du mitliest
Alles Liebe,
Julia
So schön beschrieben dass man am liebsten selbst dort sein möchte
Danke Dir, liebe Ute!
Schön wieder eine Fortsetzung zu lesen. Nach ein paar Folgen gibt es sicher mehr zu berichten
Danke, dass Du wieder mitliest, liebe Ulrike!
Liebe Grüße,
Julia
oh schön, ein Buch über meine Seelenheimat. Irland ist wirklich ein tolles Land mit wunderbaren Menschen. Ich freu mich auf die nächsten Kapitel.
Liebe Julia, kannst du da nicht eine Serie draus machen wie Carolina Creek? 😉 Das wäre toll.
Liebe Grüße
Eva
Liebe Eva,
oh wie schön – danke für Deine lieben Worte!
Und ja, der Plan ist, daraus eine Reihe zu machen. Ich kann nicht nur ein Buch an einem Ort schreiben, stelle ich immer wieder fest.
Bald lernt ihr die anderen Männer kennen. Ich glaube, das ist Kapitel 4.
Liebe Grüße,
Julia
Der Anfang ist schon interessant und ich freue mich auf mehr.
Liebe Marlies,
das freut mich sehr! Danke fürs Mitlesen.
Liebe Grüße,
Julia
Der Anfang liest sich wieder sehr gut und ich freue mich auf mehr. Ich kenne Irland leider noch nicht, aber die Beschreibung verlockt auf mehr. Liebe Grüße
Liebe Gabriele, dann freut es mich, dass Du Irland so ein wenig kennenlernst. Danke fürs Mitlesen!
Liebe Grüße,
Julia
Danke Julia.
Das du uns Irland näher bringst. Sehr schöner Einstieg bzw Anfang Ich freu mich schon auf die Fortsetzung.
Immer gern, liebe Beate! Danke fürs Mitlesen.
Alles Liebe,
Julia