
Orla schlenderte durch die Abteilung mit dem Deko-Material im Baumarkt. Sie hob eine Schale hoch, die eine Muschel darstellte und wunderschön war, und stellte sie wieder zurück. Es war nicht ihre Aufgabe, das Seaglass Cottage einzurichten, aber sie wollte es so gern, denn sie konnte es gut. Auch wenn sie zur Zeit keine eigene Wohnung hatte, sondern sich immer nur Zimmer nahm, hatte sie ein Auge dafür. Eine Zeitlang hatte sie im College sogar mal damit geliebäugelt, Innenarchitektin zu werden.
Aber das musste sie nicht hier ausleben. Allerdings wollte sie das Cottage ein bisschen heimeliger machen für die Jugendlichen. Es sollte wie eine Art Zuhause für sie werden, denn immerhin würden sie die nächsten Wochen dort verbringen.
Zugegeben, es war schon nett, aber irgendwie fehlte noch der letzte Schliff. Allerdings wusste Orla auch, dass sie in dieser Beziehung sehr hohe Ansprüche hatte. Farben, Formen, die Beschaffenheit von Dingen, all das war ihr unglaublich wichtig und musste stimmig sein. Und im Seaglass Cottage fehlte noch irgendetwas. Vermutlich würde es den Jugendlichen nicht auffallen, wenn sie in ein paar Tagen kämen, aber Orla würde ja auch dort wohnen und wollte sich wohl fühlen.
Allerdings musste sie ihr Budget wirklich ein bisschen zusammenhalten, denn Ronan hatte recht. Sie würden noch ein paar Werkzeuge kaufen müssen. Sie dachte an den Vormittag, den sie wieder in der Werkstatt verbracht hatte.
Ronan war da gewesen, schweigsam, geduldig und so unglaublich gut aussehend. Sein dunkles Haar war vom Wind zerzaust gewesen, als er reingekommen war und sie hatte sich dabei ertappt, dass sie gern mit den Händen durchgefahren wäre. Seine Haare mussten sich toll anfühlen. Und es war lächerlich, dass sie das dachte. Aber sie müsste schon sehr abgestumpft sein, um Ronan Flannagan nicht attraktiv zu finden. Sie mochte Männer, die so zurückhaltend, schwer zu durchschauen und tiefgründig waren. Und das war Ronan auf jeden Fall. Allein wenn sie an sein Spiel mit dem Otter dachte, breitete sich ein warmes Gefühl in ihrem Bauch aus.
Aber Ronan war ganz sicher nicht an ihr interessiert. Heute morgen, war er äußerst still gewesen und manchmal hatte sie fast das Gefühl, als ob er genervt wäre.
Marion war auch kurz nach neun dort aufgetaucht, und Ronan hatte nicht so viel geredet wie am Tag zuvor. Er war anscheinend jemand, der sich in größeren Gruppen eher zurückhielt. Aber Orla konnte seine Tiefe spüren und ahnte, dass sehr viele Gefühle hinter der harten Schale verborgen waren.
Bei ihrem ersten Treffen in der Werkstatt hatte er sehr aufmerksam zugehört, als sie von ihrer schwierigen Kindheit erzählt hatte, und ihr war das Gefühl gekommen, dass er sehr genau wusste, wovon sie sprach. Dass er ähnliche Erfahrungen gemacht hatte. So war es oft mit Menschen, die es auch nicht leicht gehabt hatten im Leben. Man fand einander, verstand sich. Man hatte das Gleiche erlebt und konnte Dinge verstehen, die andere Menschen manchmal nicht nachvollziehen konnten. Ein unsichtbares Band verband sie.
Sie nahm eine kleine Holzfigur in die Hand, strich über das glatte Holz und stellte auch dieses Objekt wieder weg. Im Cottage stand eine Skulptur aus Holz, die ihr gut gefiel. Ein ungewöhnlich geformtes Stück Treibholz, das nachbearbeitet worden und somit zu einem Meisterwerk geworden war. So etwas konnte Orla sich auch gut für die Jugendlichen vorstellen. Allerdings hatte das wenig mit Bauen zu tun, sondern eher mit einem künstlerischen Auge, mit dem Gespür dafür, Dinge zu sehen, die anderen verborgen blieben. Ein bisschen wie mit den Gefühlen.
Auf jeden Fall würde sie keine Holzskulptur kaufen, denn die konnten sie wirklich selber machen. Sie hatte versucht, ein bisschen mehr über Ronan Flannagan herauszufinden, was ihr aber noch nicht gelungen war. Er hatte keine Internetseite und tauchte auch auf keiner auf. Doch anscheinend hatte er eine andere Werkstatt, denn kurz vor zehn an diesem Morgen hatte er einen Anruf bekommen und erklärt, dass er noch einem Freund helfen müsse. Dann hatte er sich verabschiedet.
Zum Glück hatte Ronan ihr und Marion genaue Anweisungen gegeben, was sie in den nächsten Stunden tun konnten, und so hatten sie bis zum Mittagessen noch einiges erledigt. Orla wusste, dass es ein großartiges Projekt werden würde. Sie freute sich schon darauf, dass die Jugendlichen bald kommen würden.
Sie nahm eine Kerze in die Hand, doch dann überlegte sie sich, dass Kerzen vielleicht nicht das Beste waren, wenn sie so viele Jugendliche im Haus hatten. Offene Flammen waren so eine Sache. Sie mochte Kerzen sehr, und in dem dunklen Winter in Dublin hatte sie in ihrer Wohnung oft welche angezündet. Doch jetzt im Sommer? Entschlossen stellte sie die Kerzen zurück.
Orla seufzte. Sie war nicht hier, um Deko-Material zu kaufen, sondern sie brauchte etwas ganz anderes. Sie nahm ihren Einkaufswagen und schob ihn weiter durch die Gänge. Der Geruch von Holz und Farbe lag in der Luft, genau wie in der Werkstatt. Obwohl, dort roch es noch besser. Älter, würziger und nach Meer.
Aber jetzt musste sie etwas finden, was sie als eine Art Tafel benutzen konnten. Zuerst hatte sie gedacht, dass sie ein großes Whiteboard nehmen wollte, um es in der Werkstatt aufzuhängen. Doch Whiteboards erinnerten sie an die furchtbaren Besprechungen, die sie in New York gehabt hatte, und sie wollte mit diesem Ding nichts mehr zu tun haben. Eine Korkwand wäre besser, an die konnte man Zettel pinnen. Aber so eine große gab es hier nicht.
Schließlich blieb ihr Blick an den Spanplatten hängen, die an einer Wand lehnten. Wenn sie so eine nehmen würde, dann könnte sie ein großes Papier darauf befestigen, und dann könnten sie es wie ein riesiges Zeichenbrett benutzen.
Ja, das war eine gute Idee. Eine Spanplatte war perfekt. Doch als sie vor den Platten stand, fiel ihr auf, wie riesig die war.
Orla überlegte. Passte die überhaupt in ihren Mietwagen? Der war nicht sonderlich groß. Es würde vermutlich schwierig werden.
Als sie ein Schild entdeckte, dass man die Spanplatten auch zuschneiden lassen konnte, überlegte sie, ob sie das fragen sollte. Oder ob das etwas war, was Ronan auch selbst machen konnte? In der Werkstatt gab es doch eine riesige Kreissäge. Das war das Erste, was er heute Morgen hatte herausholen wollen.
Sie musste schmunzeln, als sie daran dachte, wie besorgt er darum gewesen war, dass die Jugendlichen sich mit dem Werkzeug bewaffnen könnten, um Schaden anzurichten. Aber er dachte eben mit. Er war viel mehr für das Projekt, als er zugeben wollte. Sie konnte es in seinen Augen sehen.
Zwei Männer in Handwerkskleidung traten in den Gang, in dem sie gerade stand und betrachteten die riesige Metallleisten, die an der Wand lehnten. Beide waren muskulös und groß. Der eine hatte dunkle Haare und einen Drei-Tage-Bart, der andere war dunkelblond, und selbst von hier konnte Orla sehen, dass er blaue Augen hatte, so leuchtend waren sie. Die Art, wie sie sich bewegten, verriet ihre körperliche Arbeit.
Der eine schüttelte den Kopf, als der andere eine Leiste aus einem Stapel zog. “Ich brauche etwas Breiteres.”
“Aber wenn du das so machst, dann macht es keinen Sinn. Du musst auf jeden Fall…”
“Ich muss gar nichts“, erwiderte der andere mürrisch.
„Du weißt ja noch nicht einmal, was ich vorschlagen wollte.“
“Ich brauche deine Vorschläge nicht.“
“Die kriegst du trotzdem.”
„Behalt sie für dich und lass mich meine Leiste aussuchen.“
Orla konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Die beiden klangen wir ein altes Ehepaar, das sie ganz sicher nicht waren. Eher gute Freunde.
Aber sie waren beide offensichtlich Handwerker und vielleicht konnten sie ihr helfen. Sie lehnte die Platte wieder an die Wand.
In diesem Moment wandte sich der eine Mann zu ihr um. “Brauchen Sie vielleicht Hilfe? Mein Freund hier will meine nicht.“ Seine Stimme klang freundlich.
„Bevor Sie sich langweilen, nehme ich die gern an“, sagte sie.
Er stieß seinen Freund an. „Siehst du, so nimmt man auf nette Art und Weise Hilfe an. Also, was kann ich für Sie tun?“
Zu ihrer Überraschung kamen beide Männer zu ihr, doch kurz bevor sie sie erreichten, sah Orla, wie ein weiterer Mann in den Gang trat und sich suchend umschaute.
Ihr Herz flatterte ein wenig, als sie begriff, wer das war. Sie erkannte die grauen Augen, das grimmige Gesicht und die starken Oberarme sofort. Ronan.
Er schaute überrascht, als er sie erblickte, und runzelte die Stirn. Das tat er so oft, als ob er sich ständig fragte, was sie hier wollte. Aber heute lag noch etwas anderes in seinem Blick. Oder bildete sie sich das ein? Sie hob die Hand und winkte ihm zu. Er antwortete nur mit einem Nicken.
Orla bemerkte, dass ihr Herz schneller schlug, und ihre Knie wurden ein bisschen weich. Ronan blieb stehen und betrachtete die Szene.
Sollte sie ihn lieber fragen?
“Wie können wir helfen?”, fragte der Dunkelhaarige, der jetzt neben ihr stand.
Orla räusperte sich. Nun gut, wenn die beiden schon einmal hier waren. Außerdem hatte Ronan bestimmt was anderes zu tun. Ich muss diese Platte in mein Auto bekommen”, sagte sie. “Die ganze Platte.”
Der Blonde warf einen Blick auf die Platte. „Die ist ziemlich groß.” Er klang skeptisch. „Und wie steht es mit ihrem Auto?“
„Das ist ein Kleinwagen. Ich fürchte, dass ich nicht mehr hinters Steuer passe, wenn ich die einlade.“ Orla zögerte. “Ich hatte überlegt, sie durchschneiden zu lassen. Anscheinend gibt es hier einen Service, der das macht.”
“Aber Tom ist gerade nicht da. Er macht mittwochs nachmittags immer Pause”, sagte der Dunkelhaarige.
“Oh”, sagte Orla. Enttäuschung machte sich in ihr breit. „Dann muss ich mir wohl was anderes einfallen lassen.“
Sie bemerkte, dass Ronan langsam näher kam. Seine Bewegungen waren bedächtig, fast zögerlich. Die beiden anderen Männer drehten sich um.
“Ronan, du bist auch hier”, sagte der Blonde erfreut. Ein breites Lächeln erhellte sein Gesicht. “Ich dachte, du wolltest heute mit Connor und Finn die Fässer für die Brauerei umbauen.”
Ronan zögerte und warf Orla einen Blick zu. Etwas flackerte in seinen Augen auf. “Sie brauchen noch ein paar Sachen, deswegen sind wir hier. Dann sind die Fässer auch fertig.”
Der dunkelblonde Mann nickte zufrieden. „Sehr gut, dann kann mir Finn später helfen, den richtigen Lack auszusuchen, denn der da ist heute keine Hilfe.“ Er musterte die Spanplatte mit prüfenden Blicken. “Wir müssen nur noch eben der Lady hier helfen.”
“Hallo, Orla”, sagte Ronan schließlich. Seine Stimme klang weicher als sonst.
“Hi, Ronan.” Sie wollte noch etwas hinzufügen, dass sie alle Arbeiten erledigt hatte, die er ihr aufgetragen hatte, aber sie wusste nicht, in welchem Verhältnis er zu den anderen Männern stand. Und da er es überhaupt nicht zu schätzen schien, wenn man über ihn sprach, ließ sie es. Stattdessen lächelte sie ihn nur an.
“So, ihr kennt euch also?”, fragte der Blonde. Neugier lag in seiner Stimme.
Ronan nickte. “Orla leitet das Projekt, das Marion an Land gezogen hat.”
“Welches Projekt?”, fragte der Dunkelhaarige.
Der andere seufzte. “Das hat Marion doch auf der Gemeindeversammlung vorgestellt. Du warst doch da.“
Der Dunkelhaarige zuckte die Schultern. “Hab ich irgendwie nicht mitbekommen.”
Sein Freund streckte Orla die Hand hin. “Hallo, ich bin Brendan. Dann sind Sie also diejenige, die mit den Jugendlichen arbeitet. Ich finde das großartig.” Seine Begeisterung schien echt zu sein.
Sie ergriff seine Hand. „Ich bin Orla.“
Auch der andere Mann reichte ihr die Hand. „Liam.“
„Und wie ich hörte, hilft Ronan?“ Brendan schlug ihm mit einer Hand auf die Schulter.
„Ich habe nur für Marion die Werkstatt aufgeräumt.“
Brendan grinste. „Dann helfen wir eben gern. Also, die Spanplatte muss ins Auto?“
Orla fand die Interaktion interessant. Die drei schienen eine eingespielte Dynamik zu haben. „Ja, genau.“ Sie blickte von dem freundlichen Brendan zum verschlossenen und zurück. „Dann wohnt ihr auch in Emerald Cliffs?”
„So ist es“, erklärte Brendan. “Wir haben alle eine Werkstatt im Craftsmen Quarter.”
„Ihr seid alle Handwerker? Seid ihr auch Tischler?“ Wenn sie noch mehr erfahrene Handwerker vor Ort hatten, konnten sie die vielleicht auch noch um Hilfe bitten.
Brendan schüttelte den Kopf. „Liam ist Schmied, ich Bildhauer und nebenbei baue ich noch Häuser, Connor hat eine Whiskybrennerei und Finn ist Bootsbauer.“
„Das ist ja wirklich sehr unterschiedliche Berufe. Wie spannend!“ Das Craftsmen Quarter hatte Orla schon im Vorbeifahren gesehen. Ob Ronan da auch seine Werkstatt hatte? Sie fand die Idee, dass diese Männer alle unter einem Dach arbeiteten äußerst interessant. Ob sie eine Website hatten? Es juckte sie in den Fingern, das gleich nachzuschauen, doch sie hielt sich zurück.
Orla versuchte an der Art, wie die Männer standen und nonverbal miteinander kommunizierten, herauszufinden, ob sie befreundet waren oder nur Kollegen. Ihre Körpersprache sagte ihr, dass Ronan die beiden mochte, auch wenn sein Blick wie immer ein wenig finster war. Doch sie konnte ihn mittlerweile schon einigermaßen einschätzen. Es war mehr eine schützende Maske als echte Unfreundlichkeit.
„Dein Name ist also Orla Murphy?“, fragte Brendan jetzt. „Bist du Irin?“
Sie lachte, denn diese Frage kannte sie schon. „Ich weiß, dass ich nicht so klinge. Ich bin nur halbe Irin. Meine Mutter ist aus Irland, aber ich bin in den USA geboren und aufgewachsen.”
“Und jetzt machst du hier Urlaub?”, fragte Brendan. Er bestritt die Unterhaltung, während Liam und Ronan nur daneben standen, aber aufmerksam zuhörten.
Orla schüttelte den Kopf. “Nein, ich lebe seit zwei Jahren in Dublin. Und jetzt bin ich für ein paar Wochen hier, damit wir das Projekt durchführen können.”
“Und bei diesem Projekt arbeitest du in Patricks alter Werkstatt?” Es war Liam, der das fragte. Sein Blick wanderte jedoch zu Ronan.
“Genauso ist es. Es ist eine tolle Werkstatt, vor allem mit dem Blick aufs Meer und wir sind froh, dass Marion sie uns zur Verfügung gestellt hat.“ Sie würde ihnen jetzt nicht erzählen, dass das Projekt fast nicht zustanden gekommen wäre, weil der andere Ort seine Zusage nach Bürgerprotesten zurückgezogen hatte.
Brendan grinste. “Und wenn ich Ronans Blick richtig deute, gefällt ihm das überhaupt nicht.” Er stieß Ronan mit der Schulter an.
Ronans Gesicht wurde noch grimmiger. “Das hab ich nicht gesagt.” Seine Kiefer spannten sich an.
Bevor Brendan noch etwas sagen konnte, wandte Ronan sich an Orla. Seine grauen Augen fixierten sie. „Du brauchst also die Spanplatte für die Werkstatt? Wofür?”
Auf einmal fragte Orla sich, ob das vielleicht eine dumme Idee gewesen war. „Ich hatte mir überlegt, dass wir sie statt eines Whiteboards benutzen. Wir könnten sie in der Werkstatt aufhängen und ein großes Papier darauf spannen, sodass die Jugendlichen dort ihre Projekte planen und darauf zeichnen können.” Fragend schaute sie Ronan an. “Ist in der Werkstatt Platz dafür? Ich dachte an die Wand, die du gestern freigeräumt hast. Oder hattest du die für was anderes vorgesehen?“
„Das ist eine gute Idee. Sie brauchen etwas anderes als nur einen kleinen Block auf dem sie ihre Ideen festhalten können. Leider können sie an der Stelle so schlecht an die Wand treten. Aber vielleicht geht es dort, wo jetzt die Kreissäge steht.“
Orla merkte, wie Brendan interessiert zwischen ihnen hin und her blickte und sie fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Auch Liam runzelte leicht die Stirn.
„Dann sollten wir die Spanplatte also nehmen?“, fragte Orla.
„Dein Mietwagen ist der kleine blaue vor der Tür?”, fragte Liam.
Orla nickte. Es waren nicht sehr viele Autos auf dem Parkplatz, und vermutlich kannten die Einheimischen alle Wagen. In einer so kleinen Stadt kannte doch bestimmt jeder jeden.
“Da passt die Platte nicht rein”, stellte Liam fest. Mit der Sicherheit eines Mannes, der sich mit Maßen auskannte.
Orla seufzte. “Vielleicht hätte ich das besser durchdenken sollen”, sagte sie und strich über die Spanplatte an. Ein scharfer Schmerz fuhr in ihre Hand. „Autsch.“ Sie blickte auf ihre Hand und sah, dass ein Splitter darin steckte.
Meine Güte, war das peinlich. Wie war sie nur auf die Idee gekommen, über die Spanplatte zu streichen?
„Ein Splitter?“, fragte Brendan. „Soll ich den rausmachen?“
Doch Orla schüttelte den Kopf. „Es geht schon. Ich mache ihn zuhause raus.“
Es war Ronan, der seine Hand hinhielt. „Zeig her“, sagte er bestimmt und Orla konnte gar nicht anders als ihre Finger in seine Hand zu legen.
Er umfasste ihr Handgelenk und drehte ihre Handfläche hin und her. Eine Gänsehaut lief über ihren Arm, ausgehend von der Stelle, an der er sie berührte.
„Gib mir deine Pinzette“, sagte Ronan zu Brendan.
„Soll ich das vielleicht rausmachen? Du bist doch eher der Mann fürs Grobe.“ Aber in seiner Stimme klang Belustigung mit und er holte bereits ein kleines flaches Mäppchen aus der Hemdtasche.
Orla versuchte sich daran zu erinnern, welches Handwerk er ausübte. Ach ja, er war Bildhauer.
Brendan reichte Ronan eine Pinzette und bevor Orla auch nur einmal tief durchatmen konnte, hatte Ronan den Splitter aus ihrer Handfläche gezogen.
Mit dem Daumen strich er noch einmal über die Stelle. Es blutete nicht einmal.
„Danke“, sagte Orla leise.
„Gern geschehen“, erwiderte Ronan. Für einen Moment waren sich ihre Gesichter echt nahe.
„In Ordnung, du Held“, sagte Brendan jetzt und steckte seine Pinzette wieder ins Etui, „wir müssen trotzdem noch eine Lösung für die Spanplatte finden.“
“Es ist schon gut”, sagte Orla. “So wichtig ist es auch nicht. Ich kann das auch immer noch erledigen, wenn mein Partner kommt.”
„Dein Partner?”, fragte Brendan und warf Ronan einen Blick zu. Ein vielsagender Blick.
“Der andere Projektleiter”, erklärte Orla schnell. “Er ist nur ein Kollege.”
Sie fragte sich, warum sie diesen Zusatz gemacht hatte. Aus irgendeinem Grund war es ihr wichtig, dass Ronan das wusste.
„Na dann bin ich ja beruhigt“, sagte Brendan mit einem Grinsen und auch Liams Mundwinkel zuckte.
Ronan verdrehte die Augen. Ein seltener Ausdruck von Emotion bei ihm.
“Ich glaube, ich brauche die Spanplatte doch nicht. „Ich werde das erst einmal mit Shane absprechen“, sagte Orla.
„Bist du sicher?”, fragte Liam. “Ansonsten könnte ich die auch in meinem Wagen mitnehmen und bringe sie dir bei der Werkstatt vorbei.”
Ronan zog die Augenbrauen zusammen. Seine Körperhaltung wurde angespannter.
Brendan wandte sich an Orla mit einem charmanten Lächeln: “Und ich bin mir sicher, dass Ronan sie dir auch gleich zuschneiden kann. Einmal in der Mitte durch?”
Orla überlegte. Die Männer waren wirklich hilfsbereit? „Wenn ich ein Papier finde, das groß genug ist, dass ich es einmal über die gesamte Länge spannen kann, dann würde ich sie sogar in der Größe behalten. Ich wollte sie nur zuschneiden lassen, damit ich sie ins Auto bekomme.”
“Beim Papier können wir helfen”, sagte Liam. “Kommen mit.“ Er machte eine einladende Geste.
Ronan stieß hörbar die Luft aus, als Orla Liam folgte. Sie sah gerade noch, wie Brendan Ronan mit dem Ellenbogen anstieß. Ein stummes Gespräch schien zwischen den beiden stattzufinden. Ronan verschränkte die Arme und blieb erst stehen, doch dann folgte er ihnen ebenfalls. Seine Schritte waren schwer auf dem Betonboden.
Schon bald hatten sie eine riesige Rolle Papier gefunden, die tatsächlich genau auf die Spanplatte passte. Orla war fasziniert, was es in Baumärkten so alles gab und ihr wurde klar, dass sie sich in so einem Laden noch nie richtig umgeschaut hatte.
Als Liam die Rolle schulterte, sagte sie schnell: „So viel brauche ich gar nicht.“
Brendan schüttelte den Kopf. „Das macht nichts. Wir haben demnächst wieder den Markt, und da ist der Plan, dass wir etwas für Kinder machen. Wir könnten eine Zeichnung anfertigen lassen. Vom Meer? Ich bin mir sicher, dass Marion den Rest gerne nimmt.” Er klang begeistert von seiner eigenen Idee.
“Wann ist das Fest?“, fragte Orla, denn sie dachte gleich daran, mit den Jugendlichen hinzugehen.
“Erst in ein paar Wochen”, sagte Liam und dieses Mal lächelte er sogar.
Ronan seufzte. Wieder. “Dir scheint das Spaß zu machen.”
“Natürlich. Sophia ist schon ganz aufgeregt und will mir helfen. Wir überlegen sogar, noch eine zweite Runde zu machen, wenn wir genug Kinder zusammenbekommen.“
Brendan wandte sich an Orla. „Sophia ist Liams Tochter und sie liebt Feste. Sie will Geld für Tiere in Not sammeln.“
“Das ist ja wunderbar”, sagte Orla. Sie mochte die Gemeinschaftsidee. Und anscheinend taute selbst der zurückhaltende Liam auf, wenn es um seine Tochter ging.
Liam schulterte die Papierrolle. Mühelos, als wäre sie federleicht. „Brendan, willst du nicht noch Schienen kaufen?”
„Jetzt werden wir erst mal Orla helfen”, erklärte Brendan.
Sie gingen zurück zu der Spanplatte, und Liam legte die Papierrolle in den Einkaufswagen. “Die nehme ich auch gleich noch mit und bringe sie dir später vorbei. Oder Connor bringt sie dir. Sein Wagen ist größer, weil er ständig Whiskyfässer transportiert.“
„Das ist wunderbar. Vielen Dank!“ Orla konnte ihr Glück kaum fassen. Sie wandte sich an Ronan. „Kannst du mir später dann noch die Werkstatt aufschließen? Soweit ich weiß, ist Marion nicht da und ich habe noch keinen Schlüssel.“
Bevor Ronan antworten konnte, sagte Liam: „Der Schlüssel liegt oben auf dem Türrahmen. Du kannst ihn dir einfach nehmen. Dann brauchst du unseren Griesgram nicht immer zu belästigen.“
Orla hob erstaunt die Augenbrauen. Sie kannte es nicht, dass Häuser unverschlossen blieben oder dass jeder wusste, wo der Schlüssel verborgen war. Und irgendwie war sie fasziniert von der Idee, in einer Kleinstadt zu wohnen, wo jeder jeden kannte und jeder solche Dinge wusste. Es hatte etwas Vertrautes und Geborgenes.
Liam deutete auf den Einkaufswagen. „Brendan, nimmst du den? Ich bringe die Platte zum Auto. Sag Ben welche er abrechnen soll.“
Er hob die Platte mit beiden Händen an. Orla konnte nicht umhin zu sehen, wie sich die Muskeln an seinem Oberarm anspannten. Diese drei Männer waren alle auf ihre Art attraktiv. In New York hatte sie nicht so viele gut aussehende Männer auf einem Haufen gesehen, zumindest nicht solche, die sich ihre Muskeln in einer Werkstatt erarbeitet hatten und nicht in einem Fitnessstudio. Es gab Schlimmeres im Leben. Viel Schlimmeres.
Sie meinte, Ronan etwas Unverständliches murmeln zu hören. Sie war sich nicht sicher, aber sie meinte das Wort “Angeber” herausgehört zu haben. Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
“Ronan, du kannst wieder zu Connor und Finn gehen“, sagte Brendan. “Wir helfen Orla nur schnell, die Sachen hinauszubringen.”
Ronan antwortete nicht, schaute seinen Freund aber zusammengezogenen Augenbrauen an. Was den noch mehr zum Grinsen brachte.
Er wandte sich wieder an Orla. „Willst du dann noch bleiben und dich mit uns im Baumarkt vergnügen?”, fragte Brendan. Seine Augen funkelten schelmisch.
Orla wechselte einen Blick mit Ronan und schüttelte den Kopf.
Sie hatte das Gefühl, dass es Ronan nicht gefallen würde, wenn sie blieb und sich weiterhin mit Liam und Brendan unterhielt. Irgendwie hatte sie das Gefühl, er hätte Sorge, dass sie etwas über ihn ausplaudern würden. Dabei musste er das nicht haben. Die Geschichte mit dem Otter war bei ihr sicher. Sie war fasziniert davon, dass sie ihn dabei erwischt hatte, wie er mit dem Otter spielte und für ihn ein Spielbecken gebaut hatte. Das hätte sie Ronan wirklich nicht zugetraut. Er war ein interessanter Mann. Voller Überraschungen. Und sie war sich sicher, dass es noch mehr Ungewöhnliches an ihm zu entdecken gab.
„Danke nein. Ich habe noch eine Menge zu tun”, sagte sie. “Aber es ist wirklich sehr, sehr nett, dass ihr die Spanplatte und das Papier mitnehmt. Ronan, ist es in Ordnung, wenn ich noch mal in die Werkstatt gehe und dort noch ein bisschen weitermache? Ich möchte gern noch mehr ein Gefühl für den Raum bekommen.“
Bevor Ronan antworten konnte, sagte Brendan: “Ja, es wäre super, wenn du in der Werkstatt wärst. Dann könnte ich nachher die Spanplatte direkt bei dir abliefern, und wir können das mit dem Papier gleich ausprobieren.” Er zwinkerte ihr zu.
“Du kannst nachher nicht. Heute Abend ist Pubquiz“, wandte Ronan ein. Seine Stimme klang etwas schärfer als sonst. “Und da du jetzt hier so viel Zeit verbracht hast, schaffst du es nicht, vorher bei der Werkstatt vorbeizufahren.”
“Gibt es irgendeinen Grund, warum du nicht willst, dass ich zu Orla in die Werkstatt komme?” Brendan klang amüsiert.
“Sie hat zu tun.”
“Ich kann trotzdem schnell sein, wenn ich will.”
Ronan verschränkte die Arme. „Nein, ich bringe die Sachen morgen zur Werkstatt. Dann brauchst du nicht extra herumzufahren.” Ronans Ton duldete keinen Widerspruch.
Liam und Brendan tauschten einen Blick und ein wissendes Grinsen.
Orla hingegen hatte den Schlagabtausch fasziniert verfolgt. Normalerweise schätzte sie es nicht, wenn Männer sich in ihre Pläne und Termine einmischten, aber Ronan war eindeutig dagegen gewesen, dass Brendan allein Zeit mit ihr in der Werkstatt verbrachte. Und irgendwie verursachte das ein warmes Gefühl in ihrem Bauch. Ob er sich auch zu ihr hingezogen fühlte? Sie hätte nichts dagegen.
Brendan hob die Schultern. „Also gut, wie du willst. Aber ich freue mich wirklich, dich kennenzulernen, Orla. Ich finde, so ein Projekt ist genau das Richtige für Emerald Cliffs, und ich bin froh, dass Marion dich hierher geholt hat. Wenn du in den nächsten Wochen irgendetwas brauchst, gib mir einfach Bescheid. Ich bin immer da. Vielleicht haben die Jugendlichen ja auch mal Lust, in meine Werkstatt zu kommen oder in Liams Schmiede. Ich kann ihnen gern etwas zeigen.”
“Viel zu gefährlich für den Anfang”, sagte Ronan. “Die müssen erst mal lernen, mit Holz umzugehen. Dann können wir uns um Feuer und Metall kümmern.”
“Wie du meinst. Ich glaube, Orla hat ein gutes Gefühl dafür. Also wenn was ist, melde dich einfach. Du findest uns im Craftsmen Quarter. Da haben wir alle unsere Werkstätten.“
Zwei andere Männer tauchten in einem der Gänge auf, und Liam hob die Hand. “Das sind Connor und Finn.”
Er wollte die beiden anscheinend heranwinken, doch Ronan schüttelte den Kopf. “Wir müssen los. Ich brauche Schrauben.”
Orla bemerkte, dass die beiden anderen Männer interessiert zu ihnen hinüberschauten. Auch sie trugen Arbeitskleidung und wenn sie es richtig verstanden hatte, dann arbeiteten alle zusammen im Craftsmen Quarter, so wie Brendan eben gesagt hatte.
In Marions Beschreibung hatte gestanden, dass das ein Zentrum von traditionellen Handwerkern war, die alle Meister ihrer Kunst waren. Orla hatte sich darunter eher etwas wie Weberei vorgestellt oder Töpferei, aber nicht diese fünf Männer, die aussahen, als könnten sie alle von einer Modelagentur vertreten sein. Aber ihre Hände verrieten ehrliche Arbeit.
Verstohlen warf sie einen Blick auf Ronans Hände, wie sie es schon so oft in den Stunden getan hatte, als sie zusammen in der Werkstatt gewesen waren. Und wieder ertappte sie sich bei dem Gedanken, wie es wohl sein mochte, wenn diese Hände sie anfassten.
Obwohl niemand ihre Gedanken lesen konnte, spürte sie, wie ihre Wangen warm wurden. Was war nur los mit ihr? Sie war hier um zu arbeiten.
Sie wandte sich an Brendan. „Das ist ausgesprochen nett, vielen Dank. Ich weiß nicht, ob das für die Jugendlichen gleich schon was ist, aber mich würde interessieren, was du so machst. Also wenn ich darf, würde ich gern mal vorbeikommen.“
Brendan lächelte. “Jederzeit.” Wieder warf er Ronan einen Blick zu. Er schien sich köstlich über seinen Freund zu amüsieren.
Ronan atmete tief durch und schien etwas sagen zu wollen, doch dann schüttelte er den Kopf, hob nur die Hand und sagte zu Orla: „Wir sehen uns später. Du kannst in die Werkstatt gehen, wann immer du willst.“ Dann ging er zu den anderen beiden Männern, die sich gerade schon in Bewegung gesetzt hatten. Seine Schultern waren angespannt.
Orla schaute ihm nach, wie er mit langen Schritten davonging.
Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus. Die Zeit hier würde möglicherweise interessanter werden, als sie erwartet hatte.
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Liebe Julia,
wieder sind die beiden Kapitel unglaublich spannend (und auch die zwischenmenschlichen Gefühle). Ich gespannt auf die nächsten Kapitel.
Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
Ursula
Liebe Julia,
der Schlagabtausch zwischen den Männern ist richtig amüsant. Die anderen haben gemerkt, dass Ronan sich für Orla interessiert. Ihr gefällt er ja auch.
Mal sehen, wie es weitergeht…
Liebe Grüße und schönen Sonntag!
Carmen
Hallo Julia…spontan und amüsant das Kapitel. Besonders das Geplänkel zwischen den Männern die interessant Berufe haben. Wie du Ronen Gefühle zu Orla beschreibst gefällt mir…bin schon sehr gespannt auf die nächsten Kapitel.
Ich wünsche dir einen schönen Sonntag. Mit LG aus der Pfalz